KERNFORMENSPRACHe

Deborah Adams Doering hat eine formale Kernsprache entwickelt, eine kleine Gruppe von einfachen Zeichen, die sowohl komplizierte Ideen auf ihren Grundgehalt reduziert als auch ausführlich darstellt, was sie beinhalten. Die Zeichen sind kinderleicht und gleichzeitig fruchtbar genug, um uns an Gedanken und Bedenken über menschliches Bewusstsein und unsere Verbindung zur Natur sowie unseren Gebrauch von Technologie heranzuführen. Indem sie diese Zeichen „Kernsprache“ nennt, stellt sie uns etwas Fundamentales vor, etwas, das allen Menschen jederzeit zugänglich ist. Ihre Kernsprache ist weder eine vordergründige, simplistische Form noch ein abstrakter Strichmännchenausdruck, der komplexe Themen trivialisiert. Es ist kein Schreiben, aber es ist eine Art Sprache, die, wenn weiterentwickelt und verfolgt, zu einer Art Offenbarung führen kann.

Menschliches Leben ist das Anreichern von komplexen Schichten, und Kunst sollte das widerspiegeln. Die Aufgabe der Kunst bleibt es jedoch auch, nach Grundlagen und Gemeinsamkeiten zu suchen, die uns miteinander und mit der uns alle umgebenden Welt verbinden. Kunst soll uns etwas über uns selbst und die Zeit, in der wir leben, erzählen, über die Welt, die wir geschichtlich ererbt haben und die wir erschaffen. Wenn ein Kunstwerk beginnt zu leben, suchen wir nach seinem Ursprung und seiner Entwicklung, stellen die gleichen Fragen, die wir auch uns selbst stellen, wie in Gauguins Gemälde: „Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?“ Diese Fragen nach der Bedeutung werden oft an Künstler herangetragen, und bestimmte Kunstwerke, unter anderem Doerings, beschäftigen sich mit ihnen.

Doering ist sich dessen bewusst, dass ihr Befragen der Grundlagen unserer Welt Vorgänger hat und dass sie sich auf eine Suche begibt, die vor ihr schon andere Künstler und Denker unternommen haben. Einer ihrer Einflüsse ist der holländische Künstler Piet Mondrian
(1872- 1944), dessen reife Gemälde von senkrechten und waagerechten Linien, Grundfarben sowie Schwarz und Weiß zu den Kultbildnissen des 20. Jahrhunderts gehören. Für Mondrian wies die gravierende Einfachheit seiner Formen und Kompositionen auf die verborgenen Wahrheiten hin, die den Menschen bewusst werden können.

Wie auch Mondrian ist Doering am Unsichtbaren interessiert. Dabei ist sie dennoch tief verwurzelt in den Gegebenheiten unserer Existenz. Ihre frühen Arbeiten sind Darstellungen von Naturszenen, moderner Kultur oder Familienleben, die prosaisch bekannt erscheinen. Einige dieser Werke bestehen aus Quadraten, die Digitalisierung nachahmen, und zwingen den Betrachter, sie zu synthetisieren und sie auf sich wirken zu lassen. Ihre eigene Entwicklung führte sie dazu, ihre Formen zu verfeinern, bis sie ihr Zeichensystem erreichte, das in einfachen visuellen Formen begründet ist.

Für Doering gibt es vier Grundformen: die waagerechte und senkrechte Linie, den Kreis und die Wellenlinie. Letztere (auch Tilde genannt) repräsentiert die Bewegung zwischen den anderen drei Formen, den Übergang von gerade zu kreisförmig und wieder zu gerade. In Doerings Wortschatz zeigt die Wellenlinie eine räumliche Bewegung von einer Position in eine andere. Eine Wellenlinie drückt Variationen und Kombinationen aus, die gerade Linien und Kreise nicht erreichen. Sie ist voller Unbestimmtheiten und Möglichkeiten.

Doering nennt ihre Formen „Kode“. Kodes bestimmen die Welt. Der offensichtlichste heutzutage ist der fundamentale Computerkode: Nullen und Einsen. Eine der unverwechselbaren Einsichten modernes Leben betreffend ist die Tatsache, dass alle Netzwerke, Informationen, Zahlen und Symbole, die menschliches Wissen ausmachen, im Grunde aus Nullen und Einsen bestehen. Dennoch sind die Sequenzen und Zwischenräume dieser Nullen und Einsen, die Informationsstränge, die ein Netz formen, Zeichen und Symbole für andere Wirklichkeiten, ein Konzept, das Doering verinnerlicht. Es scheint so, als ob unsere Zeit vom Computer definiert wird, besonders in seiner Eigenschaft als Bildnisse erschaffendes Werkzeug. Er wird, wie sie erläutert, eine Kunstform, eines der beängstigenden Themen im Zentrum des technologischen Wandels unserer Zeit.

Doering erkennt, wie unabdingbar es für Kunst ist, für ihre Gegenwart zu sprechen und gleichzeitig über sie hinauszuweisen. Sie bezieht sich auf Technologie und ihre allgemeine Präsenz in unserem Leben, aber ihre Kunst ist selbst keine Technologie. Kunstbetrachtung ist nicht das Herunterladen von Information; sie spornt den Betrachter an, über das Offensichtliche und Zweckmäßige hinaus zu blicken. Kunst ist auch ein Motivationsfaktor, etwas mehr als pure Anwendung zu verstehen. Die Verbindung zu den Computersprachen ist ein Weg der Annäherung an Doerings Werk, aber ihre Kunst kann uns an dieser Vertrautheit vorbei zu komplexeren und fruchtbareren Gedanken begleiten.

Doerings Kode beschwört sowohl Altertum als auch Moderne herauf: von der Keilschrift der assyrischen Tontafeln bis hin zu den Pixeln von Jpegs. Menschen haben immer Kodes verwendet – in unseren Versuchen, unsere Welt zu verstehen und miteinander zu kommunizieren. Schrift ist das einleuchtendste Beispiel. Buchstaben und Zahlen sind Kodes. Aber Doerings Werke können wir nicht einfach „lesen“. Deshalb nennen wir sie nicht Information, sondern Kunst. Kodes sind Systeme, die uns befähigen, in die unsichtbare Welt einzudringen, eine Welt, die auch den menschlichen Geist und Verstand umfasst. Kodes können auf den ersten Blick unlesbar erscheinen.

Eine Sequenz solcher Symbole oder kodierter Formfelder, obwohl nicht zu entziffern, besitzt oft eine körperliche Schönheit, die uns unmittelbar intuitiv anzieht, wie wenn eine Person, die kein Japanisch liest, ein mit Schriftzeichen bedecktes Blatt anschaut. Doerings Arbeiten sind visuell betörend, aber sehr schnell beginnen wir, sie auf einem anderen Interpretationsniveau zu verstehen. Wir betrachten sie näher, weil sie uns faszinieren, uns bewegen, sie zu hinterfragen und zu dekodieren. Es ist klar, dass ihre Werke nicht auf Zufall beruhen und etwas bedeuten. Wenn wir über ihren Sinn nachzudenken beginnen, beginnt die Bewegung.

Doering hat geäußert, dass ihre Kunst mit Kodes und Bewegung zu tun hat, und letztere bezieht sich sowohl auf das Körperliche als auch auf das Intellektuelle. Bewegung geschieht sowohl im Körper als auch im Geist, und beide nehmen an der Veränderung in der Beschaffenheit unseres Seins teil, eine Erfahrung, die Doering wahrnimmt und bisweilen auch begrüßt. Kunst kann viele Funktionen im menschlichen Leben erfüllen, aber eine auf ihrem höchsten Niveau ganz gewiss: sie kann unser Bewusstsein erweitern, uns neue Wege zu unserem eigenen menschlichen Daseins weisen. Die Idee der Einbeziehung von realer und intellektueller Bewegung hat Doerings Kode auf eine neue Ebene gehoben.

Kürzlich wurde ihr Kode auf eine Landschaft projiziert, in der ihren Linien, Kreise und Wellenlinien buchstäblich nachgegangen werden konnte, sie konnten sowohl mit dem Körper nachgezeichnet als auch über eine Entfernung und von einem Flugzeug aus nachvollzogen werden. Jetzt können wir vom Kode umgeben sein oder ihn aus der Distanz betrachten und über Nähe und Ferne, Mikro- und Makrokosmos Kleinlebewesen und Himmelskreisen auf neue Art nachsinnen. Ein Charakterzug des Menschen ist unser Bewusstsein, eine Art des Denkens und Seins, das unermessliche Mengen von Informationen in Nullen und Einsen kodieren und sie auch durch Dekodieren verbreiten kann. Doering betonte, dass unser Bewusstsein trotz all seiner verschiedenartigen Ausdrücke doch noch Teil der Natur ist.

Wenn wir uns vorstellen, dass wir von der uns umgebenden Welt getrennt sind, negieren und gefährden wir unsere Humanität. Der Erde Schaden zuzufügen bedeutet auch, uns selbst zu schaden. Wenn wir es nicht schaffen, „unsere technologischen Kodes mit der Natur in Übereinstimmung zu bringen“, werden wir unsere Zukunft in Frage stellen und ganz sicher die Hoffnung auf ein harmonisches Zusammenleben mit der Natur gefährden, betont Doering. Sie hofft, dass ihr Kode „menschliches Bewusstsein mit dem uns umgebenden Weltbewusstsein verbindet“. Indem wir ihren Kode sehen oder körperlich erfahren, wenn wir uns entlang der Linien auf der Erde bewegen, erlauben wir der Künstlerin, unser persönliches Bewusstsein zu beeinflussen. Ein Teil der Veränderung in unserem Dasein ist auch die Erkenntnis, dass unser Kode und der der Erde miteinander verwoben sind, dass wir alle an der Erschaffung eines großartigen, dynamischen Kreises teilhaben. So komplex dieses Konzept auch in der ausführlichen Darstellung erscheinen mag, ist es doch auch ein Konzept von ursprü̈nglicher Einfachheit, so einzigartig wie Doerings Kernformensprache.

Lea Rosson DeLong
Lea Rosson DeLong hat ein Ph.D. von der University of Kansas in Kunstgeschichte. Sie hat die folgende Ausstellung zusammengestellt: Shifting Visons: O'Keeffe, Guston, Richter and Chemistry Imagined: A Collaboration of Art, Science and Literature.

Übersetzung: Christine Summers, Goethe-Institut Chicago