Alle Kunst existiert nur zur Hälfte in der Realität. Sie nimmt jenen Raum ein zwischen der Welt, in der wir leben, der Welt, von der wir träumen, der Welt unserer Erinnerungen und der Welt des Kunstwerks.
Das Werk von Deborah Adams Doering ist eine Erforschung des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben. Es vermischt abstrakte Bilder, Gedanken, die in Worten geäußert werden, und Gegenstände, um eine Art Reise zu erschaffen, nicht mit einem bestimmten Ziel, sondern eine Reise, die zu Entdeckungen führt, eine Reise, die Entfernung an Erkenntnis misst.
In der Installationsreihe „Mythen meiner Ahnen“ beobachtet Doering gewisse Objekte ihres frühen Lebens. Sie stellt eine Kindheit zur Schau, in der es nur wenige männliche Vorbilder gab. Ihr Urgroßvater, der als Marathon-Läufer Ruhm erlangte, starb jung durch einen ungewöhnlichen Unfall. Als er über ein Tor sprang, fing sich sein Ehering an einem Wäschehaken, und der Finger wurde von seiner Hand gerissen. Tod durch Tetanus trat ein. Dies war eines von mehreren Ereignissen, die zu einem Mangel an männlichen Wesen in ihrer Familie führten. Diese Ereignisse umreißt Doering in ihrer erzählenden künstlerischen Aussage. Großväter und Väter, Onkel und Brüder – diese Personen bilden normalerweise eine sichere Grundlage für jede Familie, und der Mangel an nahestehenden männlichen Verwandten gab der Künstlerin in ihrer Jugend ein Gefühl des Umhergetrieben-Seins, einer virtuellen Realität, die ohne Anker war.
Doerings Kunst ist in gewisser Weise eine Erweiterung dieses „Suchens nach einem Anker“ in einer Welt, die ihr während ihrer Kindheit im Mittleren Westen der USA wie ein fremder und merkwürdiger Ort erschien. Diese Suche motiviert ihre besondere Sensibilität für ihre Umwelt und den Veränderungen an und in der Umgebung. Veränderungen, Wechsel, was es bedeutet, sich von einem Zustand des Seins in einen anderen zu begeben – all das zieht sich durch ihr Werk. Ihr Frühwerk, große Gemälde in hellen Farben, die auf elektronischen Bildern beruhen, spiegelt einen Sinn für Örtlichkeit wider – Gärten, das Innere von Kirchen, Bahnhöfe und andere „menschliche Orte“ des Zusammenseins wie Hochzeiten, Tänze, Menschen in Kunstgalerien. Durch Techniken der Digitalisierung (Verwendung von geometrischen Formen wie Bauziegel, um ein Bild zu erstellen) sind diese Kunstwerke sozusagen auf eine Entfernung platziert, die die Einzelheiten von Orten und Menschen auf halbabstrakte Konstruktionen reduziert. Als Folge muss der Betrachter das figürliche Bild in seinem inneren Auge zusammenstellen, indem er das letzte Element der Realität aus seinen eigenen Erinnerungen hinzufügt.
Doerings Frühwerk fordert somit den Betrachter auf, Informationen zu liefern, die das Bild ergänzen – eine Tätigkeit, die eine Hauptrolle in „Mythen meiner Ahnen“ einnimmt. Schwarz-weiße kreisförmige Aquarelle – auch wieder mithilfe von Digitalisierung– verleihen dem Werk einen Anschein der Vagheit, der die Art und Weise, wie wir uns oft an Ereignisse aus unserem frühen Leben erinnern, wie ein Echo erklingen lässt. Wir, die wir in der Gegenwart leben, müssen sozusagen „die Punkte verbinden“, um ihnen zu erlauben, sich mit unserer jetzigen Lebenssituation gleichzuschalten.
In ihren „Anon Text Messages“ (Anonyme Textaussagen) – jede Botschaft ist ein großes, flaches, rollenähnliches Werk auf Papier, mit sehr flüssigen Acrylfarben gemalt – erschafft Doering eine visuelle Sprache, die mit einem Text verwandt ist. Diese Chiffren, per Hand in Kalligraphie geschrieben, können als Schriftzeichen verstanden werden, die ein Objekt oder ein Ereignis im Leben eines Einzelnen suggerieren. Man kann sich zum Beispiel einen Ehering vorstellen, einen Haken und einen abgerissenen Finger – Gegenstände, die horizontal und vertikal im „Text“ schweben.
Aber die Textmuster bewegen sich jenseits des Persönlichen. Diese graphischen Symbole, manchmal subtiler sexueller Art, deuten auf Lebensprozesse des Wachsens oder der Statik hin. Sie sind Teile und Stücke vom Leben, wie wir es erleben, Gegenstände und Verläufe, die – fast wörtlich – eine Art Gitter von Gedanken erstellen, die – wenn richtig interpretiert – darauf hinweisen, wo in unserem Leben wir uns befinden und wo wir uns selbst finden können. Diese Werke ähneln eindrucksvoll Architektenzeichnungen von Gebäuden oder Entwürfen, wie man einen Garten anlegt – alles Vorschläge, wie man die Umgebung von Grund auf erschaffen kann.
Doerings Interesse, sich an einer Umgebung zu orientieren, führt leicht dazu, eine „Textbotschaft“ auf dem Erdboden in einer riesigen Fläche brachliegenden Ackerlandes zu erstellen. Ihre Chiffren werden in ein knapp 5 Hektar großes Feld gemäht, in dem auf diese Weise die Erde bloßgelegt wird. Diese „Tinte“ malt ein Bild auf den Boden. In ihren Installationen in Kunstgalerien werden Textchiffren im Kontrapunkt digitalisierten Bildern gegenübergestellt. In ihrem Text auf dem Land ist der Kontrapunkt jedoch die natürliche Umgebung: Sonne, Wind und pflanzliches Leben. Diese Art des Kunstwerks liefert einen Dialog, der ein offeneres Ende hat, wo die Launen der Natur zu einem Teil der Gleichung werden, indem sich die Reichweite ihrer Metaphern von der privaten Welt der Familien und Innenräume auf die Gesetze der Natur und die Art und Weise ausdehnt, wie diese Gesetze ein Gefühl für eine Örtlichkeit erstellen.
In all ihren Manifestationen stellt Doerings Werk die Frage: „Was stellt dieser Ort dar, wie verhalten wir uns zu ihm, was sind die geheimen Schlüssel, womit wir ihn messen, und wie passen wir in diese Örtlichkeit bzw. inwieweit passen wir nicht hinein?“ Ihr noch weiter entstehendes Werk mag für sich die poetischen Zeilen in T.S. Eliots „Little Gidding“ in Anspruch nehmen – aus seinen Four Quartets (Vier Quartette):
„Wir werden nicht mit dem Erkunden aufhören,
Und das Ende allen Erkundens wird sein,
dass wir ankommen, wo wir aufbrachen,
Und diesen Ort zum ersten Mal erkennen.“
Robert Kameczura
Kunstkritiker, Big Shoulders Magazine
Übersetzt von Erika Remy Crisman